Jede Reise ist eine unwiederholbare Erfahrung, besonders wenn sie über typisch griechische unasphaltierte Straßen führt. In unserem Roadbook für das unerkundetes Kreta werden die Straßen entsprechend ihres Zustandes in acht Kategorien geordnet. Unter „A3“ verstehen die Autoren asphaltierte Provinzstraßen mit „netten“ Schlaglöchern und spiegelglatten Fahrbahnen. Sie verloren für mich ziemlich schnell ihre Gefährlichkeit in Anbetracht der Tatsache, dass Hans, mein Lebensgefährte und leidenschaftlicher Endurofahrer die Kategorie „U4“ bevorzugte. Das sind „unasphaltierte Straßen des Unglücks“ mit Wasser zerfressenen Stellen, Schlaglöchern, Steinlawinen, Schlamm, Staub und steiler Neigung. Darauf können leichte Enduros mit erfahrenen Fahrern fahren. Leicht ist sie ja, meine Suzuki. Nur erfahren ist die Fahrerin nicht. Meine Geländekenntnisse sind mangelhaft und beruhen auf reiner Intuition. „Angst fressen Seele“, während „Captain, mein Captain“ mit Gas und Kupplung spielend wahre Geländeorgien mit höchstem Spaßfaktor feiert.
Die Suche nach dem Weg
Unsere Reise beginnt in Matala. Nicht direkt in den Höhlen, wo die bunten Hippies ihre Utopien zu leben versuchten, sondern bei Freunden, wo wir unseren Kastenwagen abstellen. Die erste Etappe soll bis auf die Höhe von Plakias reichen. Der Strand von Agios Pavlos und der palmengesäumte Finikas Strand stehen am Besichtigungsprogramm. Nach einigen Kilometern „gewöhnen ans Gerät“ endet im Dorf Galini meine „Schonfrist“. Hans biegt die nächste Staubstraße Richtung Pavlos Strand ab. Rein intuitiv ist er felsenfest davon überzeugt quer durch den „Gemüsegarten“ dort auch zu landen. Jedes Anzeichen, dass dieser Weg möglicherweise im Nichts endet, ignoriert er einfach. Die vorerst gut fahrbare U3 wird immer enger, Gräser wachsen kniehoch, Furchen werden tiefer und das Geröll nimmt zu. Hans Warnung rechtzeitig die Kupplung zu ziehen, „sonst foahst grad weiter“, raubt mir meinen anfänglichen Vorsatz im Sattel zu bleiben, wie unwegsam auch immer das Gelände wird. Zwei Kurven vor dem endgültigen Aus weigere ich mich weiter zu fahren. Panik vor dem Absturz hat mich erfasst. Der Gesichtsausdruck von Hans spricht Bände. Schweigend fährt er mein Moped die zwei steilen Kehren hinunter. Ich trotte mit schlechtem Gewissen hinterher. Kurz danach haben die griechischen Götter Mitleid mit mir. Sie lassen diesen „Weg des Unglücks“ einfach vor einem Abgrund enden. Der Blick über die Klippen ist gigantisch. Wie wir im nächsten Dorf erfahren, hat es tatsächlich früher eine Küstenstraße gegeben, die leider nicht mehr existiert. Agios Pavlos Strand ist ein Meisterwerk der Natur. Er beginnt im Meer und endet am Berg. Die gesamte steile Bergflanke ist Sandstrand vom Feinsten. Die Motorräder lässt man auf der Hügelspitze stehen und geht zu Fuß hinunter. Shootingtermin und Blick in die Karte. Ohne weitere Zwischenfälle erreichen wir das Dorf Keramles. Ab hier geht es hinauf nach Spili und durch die Kourtaliotiko- Schlucht zum Palmenstrand. Grün schimmernd und von wilden Palmenhainen gesäumt schlängelt sich das Wasser durch die Schlucht und mündet zwischen Felsen ins Meer. An diesem malerischen Ort hat man die Wahl zwischen einem Süßwasser und einem Salzwasserbad. In der Hochsaison lohnt sich der beschwerliche Fußweg hinunter zum Strand nicht. Millionen Tagestouristen werden hier her gekarrt. Aus der Vogelperspektive allerdings, hoch oben am Felsen hockend ist der Platz einzigartig.
Das weiße Gebirge – Lefka Ori
Seinen Namen bekam es wegen seines charakteristischen grau-weißen Gesteins. Diese imposante Bergkette erhebt sich von der Nordküste mit 57 Bergspitzen mit einer Höhe von bis zu 2452 Metern, bis zur Südküste von Kreta, wo die bekannten Schluchten liegen. Ab 1000 Meter ist das Weiße Gebirge baumlos. Innerhalb der Schluchten herrscht Wildnis. Genau diese Mischung peilen wir an. Die Straße von Hora Sfakion bis Anopolis führt über einen kahlen Bergabhang in riesigen Traversen von Meeresebene auf 600 Meter Höhe. Anopolis ist eine Viehzüchtersiedlung im Gebirge mit steinernen Häusern umgeben von einer Wildnis von romantischer Schönheit. Noch in der Abendsonne fahren wir weiter bis zur Aradena – Schlucht. Über sie führt seit 1986 eine Stahlbrücke, bei deren Anblick es einem den Atem verschlägt. Mit donnernden Hufen rattern wir über die schmale Holzfahrbahn und riskieren einen Blick in die Schlucht. 150 Meter ist sie tief und trennte früher die Bewohner voneinander. Ein alter Weg auf der einen Seite bergab, auf der anderen bergauf war die einzige Verbindung mit der restlichen Welt. Solange das Licht zum Fotografieren reicht, erkunden wir die steinige Landschaft und bewundern die knorrigen Olivenbäume. Jeder Baum hat sein eigenes Gesicht, das von der Beschwerlichkeit des Wachsens und dem Gewicht der Steine erzählt, die an seine Zweige gebunden werden, damit sie sich dicht am Boden halten. Olivenbäume müssen kultiviert werden, damit sie ihre Säfte nicht verschießen. „Viel Wasser macht dicke, aber keine guten Oliven“, sagen die Bauern.
Meine Erde ist hart wie das Schweigen.
Sie presst den heißen Fels in ihren Schoß.
Die Ölbäume stehen verwaist in ihrem Licht.
Sie presst die Zähne zusammen.
Es gibt kein Wasser, nur Licht.
Jannis Ritsos (Griechischer Volksdichter)
Anopolis wird zum Stützpunkt unserer nächsten Ausfahrten. Wir sind die einzigen Motorradfahrer in dieser Gegend. Bis auf eine „very britische“ Wandergruppe bleiben die Einheimischen unter sich. In der gemütlichen Taverne kommen wir ins Plaudern. Enduristen und Fußvolk haben viel gemeinsam. Beide bevorzugen einsame Pfade und wilde Landschaften. Ich beschließe am nächsten Tag den Gashebel ruhen zu lassen und die Schlucht per pedes zu erkunden. Hans ist für dieses Vorhaben nicht zu begeistern und begibt sich lieber motorisiert auf Entdeckungsfahrt. So steige ich einsam in die Tiefe der Schlucht hinab, misstrauisch beäugt von den Ziegen, die mir auf meinem schattigen Weg Richtung Meer begegnen. Es wird ein Tag in aller Stille, in einer Kulisse der steilen Abhänge, üppiger Vegetation und einem Himmel, der so weit weg scheint. Ich marschiere ehrfurchtsvoll durch diese Erdspalte und werde mir meiner Winzigkeit bewusst. Ein Rundgang durch das völlig verlassene Steindorf Aradena beschließt diesen mystischen Tag. „Susi“ (meine Suzuki) und Hans erwarten mich mit einem kühlen Amstel auf der Brücke. Wir bleiben noch einen weiteren Tag. Zu schön sind die Pinien- und Zedernwälder dieser Gegend. Eine Forststraße „U3“ führt zu dem verlassenen Dorf Mouri mitten im weißen Gebirge. An die 200 Häuser sind hier zu Ruinen zerfallen.
Plätze mit farbenprächtigen Sonnenuntergängen haben in etwa den Stellenwert eines erklommenen Gipfels auf Schitouren. Mit einem Lächeln nimmt man die stille Erhabenheit der Natur wahr. Glücklich, dabei sein zu dürfen, wird dem Sonnenuntergang und dem dazugehörigem Ort ein Platz im Herzen gegeben. Hans schlägt für dieses Vorhaben den Ort Phinix, 600 Meter tiefer, am Meer gelegen, vor. Ich traue meinen Augen nicht. Die anfänglich moderate Staubstraße mündet in eine aus unzähligen Traversen bestehend Naturstraße, die so richtig steil hinab zum Meer führt. Die nicht enden wollende Bergabfahrt fordert mir höchste Konzentration ab. Dementsprechend ermattet sitze ich dann am Hafen und beobachte die teuren Motorboote der griechischen Schickeria, die von Hora Sfakion herüber gebraust kommen. Wir bestellen Metaxa und genießen die Abendbrise, das Farbenspiel und die wohlige Wärme des Cognacs. Dann geht`s Vollgas hinauf in die kühle Bergluft von Anopolis.
Über den Wolken
Der Plan die Nida- Hochebene vom Süden Kretas zu befahren, schien vorerst unmöglich. Unser Motorradbuch beschreibt keinen Weg dort hin. Erst in der Vivis Taverne im hübschen Dorf Zaros, am Fuße des Psiloritis, bekommen wir von der Wirtin höchst persönlich die nötigen Insidertipps. Sie erzählt, dass sie früher selber aktive Enduristin war und jeden Stein in der Gegend kennt. Wir sollen im nächsten Dorf, in Gergeri, bei der letzten Möglichkeit links abbiegen und einfach bergauf fahren. Es gibt ein durchgehendes Netz von Naturstraßen, die auf den Psiloritis Berg auf 2456 Meter hochführen. Östlich von ihm breitet sich die eindrucksvolle Nida-Hochebene aus, die von kahlen Bergabhängen umgeben ist. Auf einem dieser Gipfel ist die Ideon Andron, die Höhle in der laut griechischer Mythologie Zeus großgezogen wurde. Seine Mutter Rea musste ihn ja bekanntlich vor seinem Vater Kronos retten, der die schlechte Angewohnheit hatte seine Kinder zu verspeisen. Kronos war kein echter Kannibale. Er tat dies um seine Macht zu schützen, da er laut einem Orakel die Macht an eines seiner Kinder verlieren würde. Obwohl von zwei reizenden Nymphen mit Waldhonig und Ziegenmilch bestens versorgt schrie der kleine Zeus lautstark nach seiner Mutter. Um von seinem Vater nicht gehört zu werden wurden die Kouretes Dämonen beauftragt ihre riesigen Kupferschilder zu schlagen. So entging Zeus dem sicheren Tod und wuchs heran. Wir sitzen an diesem Abend lange in Vivis Taverne, genießen die traditionelle kretische Küche und bestaunen die zahlreichen Motorradfotos an den Wänden. Ich starte am nächsten Tag mit dem bekannten Kribbeln im Bauch. Die von Hans minuziös durchgeplante Etappe scheint mir höchst gefährlich. Für Könner bietet sie Vergnügen pur. Na bitte, was wünsch ich mir mehr. Hans macht den Coach. Er dreht sich vorsichtshalber nicht um, damit er mir keine Gelegenheit zum Protestieren gibt. Mir bleibt nichts anderes über als an seinem Hinterrad kleben zu bleiben. Egal was der Bauch dazu sagt. Mit jedem Geländekilometer genieße ich die Fahrt mehr. Diese Gegend ist gewaltig. Die steinigen Wege passen sich perfekt den Geländeformen an und geben einem das Gefühl in diesen Bergen gut aufgehoben zu sein. Die paar schwierigen Stellen machen richtig Spaß. Ich mache alle Regieanweisungen meines Fotografen gefügig mit, fahre so oft wie er wünscht fotografisch wertvolle Passagen und bin überwältigt, als ich am Gipfel über den Wolken den Adlern beim Ziehen ihrer Kreise zusehe. Wie heißt es so schön? Am Gipfel sind alle Anstrengungen vergessen, alle Ängste verflogen.
Das Asterousia- Gebirge und die Sandstrände, die sich dahinter verbergen
Dieser Gebirgszug im Süden Kretas ist zu überwinden, wenn man den Küstenstreifen zwischen Lendas, Kali Limnes und Vathi bereisen möchte. Die überwältigende Gebirgsstrecke A3 beginnt im Dorf Apesokari und schraubt sich kurvenreich bis nach Lendas hinunter. Off- Road Spezialisten bietet das Asterousia-Gebirge viele lohnende Touren. Ich freue mich nach soviel Gebirge auf entspannte Badestunden und Sonnenstrahlen auf nackter Haut. Lendas selbst ist ein uninteressantes Dorf, das nur durch die Tatsache bekannt geworden ist, dass hier die Ruinen der antiken Stadt Levin liegen. Hier stand eins der bekanntesten Asklepieien Kretas. Dieses Sanatorium mit seinen Heilquellen bekam Kundschaft aus weit her. Nach Opfergaben und Reinigungen wiesen die Priester den Kranken einen Schlafplatz in den Säulenhallen zu. Im Traum erschien ihnen der göttliche Arzt Asklepios mit seinem milden Gesicht. Er wanderte von Liegestatt zu Liegestatt und heilte durch Handauflegen und Anweisungen für den nächsten Tag. Krankheit im antiken Sinn war ein Vergehen gegen die göttliche Ordnung. Nur durch den Brücken bauenden Priester (dem pontifex) gelang eine Versöhnung, die verlorene Bindung zum Göttlichen wieder herzustellen. Heilung durch Träume und Visionen der Nacht erforderten die Bereitschaft den leib-seelischen Ursachen eines Leidens auf den Grund zu gehen und sich der Wirkung und dem Charisma eines für heilig gehalten Ortes zu überlassen.
Für meine Vision von relaxten Badestunden benötige ich keinen Priester der mir Mut zuspricht. Meinen Badefreuden sollen noch einige harte Enduro-Prüfungen voran gehen. Die Off-Road Wege entlang der Küste und zu den Sandstrandbuchten erlebe ich ziemlich stressig. Höchste Konzentration fordern sie mir ab. Selbst Hans hat schon bald genug. Die Stichstraßen runter zum Meer sind steil, steinig und ewig nicht enden wollend. Den Strand von Kali Limnes erreichen wir letztendlich zu Fuß, da für mich das letzte Stück, ein ausgewaschenes Flussbett, einfach unfahrbar ist. Dafür werde ich mit einem einsamen Platz der Extrakasse belohnt. Klares Wasser, marmor-weiße, vulkan-schwarze, jade-grün und hell geränderte Steine, die im ewigen Rhythmus der Wellen glatt geschliffen und ans Ufer geschoben worden sind.
Ich erlebte zehn Endurotage im Adrenalintaumel. Himmel hoch jauchzend, wenn ich mit „Susi“ zurechtkam und die Freiheit auf Stoppelreifen genoss, im Angstschweiß gebadet, die steilen Klippen der Ägäis vor Augen, wenn es in spitzen Kehren voll rollender Steine bergab ging.
Kalo taxidi! Gute Reise für alle Enduristen in Kreta.
Text: Andrea Sikorski Fotos: Johann Rameder & Andrea Sikorski